Ein italienischer Liederabend
mit Angelo Maioli
Freitag, 11. April 2014
Casa d’Italia · Zürich
Zu unserem Programm Viele Volkslieder geben in ihrer eigenen, ursprünglich «ungeschriebenen» Tradition der Balladenform Zeugnis von einer vergessenen und vernachlässigten Geschichte. «Das Volk» schafft sich so seine eigene Form der Erinnerung. Die italienische Chorleiterin, Sängerin, Musikethnologin und Komponistin Giovanna Marini hat einen grossen Schatz von italienischer Volksmusik – canti popolari – gesammelt. Auf der Basis einer sakralen, sehr alten Volksgesangstradition entstand in Italien eine grosse Fülle an Balladen, Arbeitslieder – canti di lavoro, lamenti (Tabakarbeiterinnen, Reisarbeiterinnen, Perlenfädlerinnen, Segelnäherinnen, Lieder der Olivenernte, der Männer, die die Holzpflöcke in Venedig in den Grund rammten); an Liedern, die den Alltag begleiten und die Rituale des Lebens (Geburt, Hochzeiten, Begräbnisse usw.) sowie an Liedern für den politischen Kampf (hier wurden durchaus auch populäre Opernmelodien des 19. Jh. umgedichtet) – inni, canti politici, canti di lotta usw. Der Chor kultur&volk Zürich verdankt Giovanna Marini auch die Arrangements der Lieder für dieses Projekt. Seit 40 Jahren engagiert sich der Chor in der Gesangstradition des politischen Liedes für gesellschaftspolitische Themen. Das sind 40 Jahre ökonomische Entwicklung mit wachsender Abkopplung der Wirtschaft von den Agenden der Politik. Auch die Überfremdungsdebatte hat mit ihrem guten Dutzend Initiativen eine inzwischen 40-jährige Geschichte. Die Angst vor Desintegration der Gesellschaft und Überbevölkerung wächst. Vor wenigen Wochen hat das Schweizer Stimmvolk die «Initiative gegen Masseneinwanderung» angenommen. Wir laden den politischen Philosophen und Historiker Angelo Maiolino ein, die Hintergründe der Migration kritisch zu reflektieren. In seinem 2011 veröffentlichten Buch «Als die Italiener noch Tschinggen waren» zeigt er den Widerstand der italienischen ImmigrantInnen gegen die Schwarzenbach-Initiative (1970). Trotz ihrer Ablehnung an der Urne wird sie zum Fundament fremdenfeindlicher Kampagnen und wachsenden Intoleranz. Unser Programm beginnt im 19. Jahrhundert mit einem Lied von Pietro Gori (1865−1911), geschrieben 1894 für Anarchisten und Sozialisten, die mit ihm in Lugano im Kerker sassen.
Der Erste Weltkrieg und seine Folgen (Tod, Verstümmelung, Verelendung, Landflucht und Binnenmigration) machten Italien zu einem geteilten Land, einem Wirtschaftsraum mit feudalen Strukturen im Süden und industrialisierten Zentren im Norden. Die ausgewählten Lieder beklagen das Elend der Soldaten und ihrer Liebsten sowie die Bedingungen der Emigration: La tradotta, Amara terra mia, E piu non canto, 40 giorni. Solche Zustände sind in der Dritten Welt weiter an der Tagesordnung und auch im heutigen Italien müssen wieder viele junge Leute auswandern. Mit wachsendem politischem Bewusstsein erkennen aber auch immer mehr Menschen die Ausbeutungsmechanismen hinter den so genannten ökonomischen Sachzwängen. Ein Gegenüber, das profitiert, wird sichtbar, während sie selber verlieren; die canti di lotta bekommen Ventilfunktion, während die Fremdenfeindlichkeit zunehmend Akzeptanz findet. Zu dieser Thematik singen wir canti politici: I soldi die padroni, Mamma della mia mamma, Avanti popolo, Combattete, La lega. In der Schweiz, für viele Migranten bevorzugtes Ziel, war bis in die 1980er-Jahre für «Saisonniers» kein Familiennachzug möglich und für «Jahresaufenthalter » war zwar der Job gesichert, aber ein Familiennachzug sehr erschwert. Hierzu singen wir Partono gli emigranti, Ballata del emigrazione. Wir schliessen mit einem Text von Antonio Gramsci aus dem Jahr 1917: «Odio gli indifferenti!: … Zwischen Abwesenheit und Gleichgültigkeit weben wenige Hände, bar jeder Kontrolle, den Stoff des gesellschaftlichen Lebens und die Masse ignoriert es, weil sie sich nicht kümmert; und dann scheint das Schicksal alles und jeden zu überwältigen, scheint es, dass die Geschichte nichts anderes sei als ein riesiges natürliches Phänomen, eine Eruption, ein Erdbeben, dem alle zu Opfer fallen, wer wollte und wer nicht wollte, wer wusste und wer nicht wusste, wer aktiv war und wer gleichgültig … Deshalb hasse ich den, der nicht teilnimmt; ich hasse die Gleichgültigen».
«Nicht die Zahl der Menschen auf Erden ist das Problem und ihre Migration, sondern die gerechte Verteilung dessen, was der Planet und der Mehrwert der Arbeit hergäben.»
Danny Dorling, 2013
Titelfoto
Jakob Tuggener: «Berti, ragazza di fabricca – Das Fabrikmädchen Berti», Zürich-Oerlikon, 1936.